Geschichte der Juden in Bingen

Auf der Erinnerungstafel an der ehemaligen Synagoge in der Rochusstraße ist zu lesen:

„Seit dem 12. Jh. bis zur Auswanderung und Deportation 1942 lebten Juden in Bingen. Erbaut 1905, zerstört in der Pogromnacht 9./10. November 1938.“

Mittelalter

Bild: AKJB

Die Anfänge der jüdischen Gemeinde in Bingen sind nicht bekannt. Die erste schriftliche Erwähnung von Juden in Bingen findet sich in einem Reisebericht des Benjamin Ben Jona aus Tudela um 1160 und 40 Jahre später, als 1198 ein bekannter Rabbiner namens Elieser Ben Joel ha-Levi vor Übergriffen aus Bonn nach Bingen floh. (Friedrich Schütz in: Bingen. Geschichte einer Stadt am Mittelrhein, S.279).

Urkundlich wird eine jüdische Gemeinde in Bingen erstmals 1321 erwähnt. Damals gehörten Bingen und das Umland zum Territorium des Erzbischofs von Mainz. Der Erzbischof war Schutzherr, der in seinem Herrschaftsbereich lebenden Juden, deren Leben, Eigentum und Religionsausübung gegen eine Gebühr durcheinen Schutzbrief auf Zeit garantiert wurde.

1438 wurde Bingen dem Mainzer Domkapitel unterstellt. Unter diesem Schutz der geistlichen Obrigkeit wurden das ganze Mittelalter hindurch 6 bis 7 jüdische Familien – etwa 30 bis 35 Personen - aus wirtschaftlichen Interessen in Bingen geduldet. Juden galten nicht als voll- und gleichberechtigte Bürger. Sie lebten im Alltag mit Einschränkungen und waren Gesetzen und Sonderabgaben unterworfen, jedoch als Kapitalgeber willkommen. In den Zeiten der Kreuzzüge und der Pest sind Ausschreitungen auch gegen die Binger Juden bekannt, ebenso wie regelmäßige Ausweisungsanordnungen, die jedoch nicht durchgeführt worden sind.

Neuzeit

Bild: AKJB

Im 15. Jh., als die Finanzgeschäfte der jüdischen Geldverleiher nicht mehr so gebraucht wurden, versuchte man die jüdischen Familien auszuweisen.

So verfügte der Mainzer Erzbischof Adolf II. von Nassau 1470 die Vertreibung der Juden aus seinem Territorium, was zur Folge hatte, dass Mainz 100 Jahre lang ohne Juden war. Diesem Vorgehen schloss sich das Domkapitel zunächst an und ließ am 26. Mai desselben Jahres (1470) durch seinen Amtmann in Bingen den dortigen Juden mitteilen, dass sie bis zum 13. Juli die Stadt zu verlassen hätten. Das Kapitel übte jedoch - gegen den wiederholt geäußerten Willen des Erzbischofs - keinen Druck aus und duldete weiterhin ihr Ver-bleiben, sicher nicht ohne Eigennutz. So nahm Bingen im Spätmittelalter unter den jüdischen Gemeinden am Mittelrhein mit weithin angesehenen Rabbinern, Gelehrten und Richtern einen besonderen Rang ein.

In den allgemein für die deutschen Juden relativ ruhigen Zeiten des 16. und 17. Jahrhunderts wuchs die jüdische Bevölkerung an und so konnte die jüdische Gemeinde im 17. Jahrhundert eine Synagoge im Judenviertel (heutige Rheinstraße 4) errichten. Im Jahr 1765zählte man in Bingen bereits 51 jüdische Haushalte mit 343 Personen. Das waren 12 % der 2812 Einwohner der Stadt! In Mainz betrug der Judenanteil damals nur 2,3%!

Aufklärung

Die Zeit der Aufklärung im 18. Jahrhundert brachte mit den französischen Revolutionstruppen 1792 die bürgerliche Gleichstellung der Juden. Das Großherzogtum Hessen, zu dem Bingen seit 1816 gehörte, betrieb eine den Juden gegenüber emanzipationsfreundliche Politik und die jüdische Bevölkerung in Bingen wuchs weiter an. Überall in der Stadt siedelten sich die jüdischen Bürger an und wurden bald zu einem wichtigen Wirtschaftsfaktor. Sie gründeten die ersten Banken und wa-ren vor allem im Weinhandel tätig.

19./20. Jahrhundert

Bild: AKJB

Ende des 19.Jh. Anfang des 20. Jh. war das Engagement der jüdischen Bürgerschaft nicht nur im wirtschaftlichen, sondern auch im gesellschaftlichen und kulturellen Leben der Stadt sehr groß. Um 1900 registrierten die beiden jüdischen Gemeinden – die starke reformorientierte „Israelitische Religionsgemeinde“ und die kleinere orthodoxe „Israelitische Kultusgesellschaft“ – zusammen 713 Angehörige, das waren 8% der Binger Einwohner. Die Synagoge in der Rheinstraße wurde zu klein und war baufällig. Deshalb wurde 1903-1905 eine neue Synagoge in der Rochusstraße 10 errichtet.

Mit dem sich jedoch zunehmenden ausbreitenden modernen Antisemitismus und der beginnenden Propaganda der Nationalsozialisten begann dieser höchste jüdische Bevölkerungsanteil rapide zu schwinden. Wer die Zeichen der Zeit richtig deutete verließ Deutschland. Mit der Machtergreifung der Nazis 1933, hatte schon ein Drittel der Binger Juden die Stadt und das Land verlassen. Die Synagoge wurde in der Pogromnacht 1938 zerstört. Im Jahr 1942 wohnten nur noch 152 jüdische Bürger in Bingen.

Unter den am 20. März 1942 mit dem ersten Massentransport aus Hessen nach Piaski-Lublin deportierten 1000 Juden waren 76 aus Bingen. Am 27. September wurden weitere 68 nach Theresienstadt verschleppt, am 30. September 6 in das sogenannte Generalgouvernement und am 10. Februar 1943 nochmals 2 nach Theresienstadt. Bis auf einen Binger jüdischen Bürger, wurden alle aus Bingen Deportierten in den Vernichtungslagern nachweislich ermordet oder sind seitdem verschollen.

Das seit dem Mittelalter in ihrer Kontinuität nie unterbrochene jüdische Gemeindeleben in Bingen war 1943 vollends ausgelöscht, die Synagoge geschändet und verbrannt.

115 Stolpersteine erinnern inzwischen im Binger Straßenpflaster vor ihrem letzten Wohnsitz an einzelne dieser Opfer.

Neuer Anfang

Durch den Zuzug von Menschen jüdischen Glaubens aus Gebieten der ehemaligen Sowjetunion nach Deutschland entwickelte sich auch in Bingen wieder jüdisches Leben.

2008 gründete sich der Förderverein für jüdisches Leben TIFFTUFF.

„TIFTUF “ ist hebräisch und bedeutet „Tröpfeln“- Tröpfchen für Tröpfchen - Stück für Stück - soll eine jüdische Gemeinde wachsen, so wie Pflanzen in der Wüste durch Tröpfchenbewässerung wachsen.

Weitere Informationen finden Sie im Band 3 unserer Publikationen: