Bingen - Pos. 29
Stolpersteine für Karl, Eva, Walter und Ruth Keller in der Rathausstraße 20
Text: Beate Goetz
Karl Keller wurde am 10. Juli 1889 in Bacharach geboren. Er war Schuhmachermeister und Schuhhändler. Am 13. Januar 1921 fand in Bingen die Hochzeit mit Eva Salomon statt. Sie kam am 28. August 1891 in Bingen als Tochter des Bürstenmachers Joseph Salomon (*9. August 1833 in Nickenich) und seiner zweiten Ehefrau Bertha geborene Kramer (*25. Februar 1853 in Schwabenheim) zur Welt. Bruder Berthold (*10. Februar 1893) fiel am 4. November 1916 bei Reims.
Joseph Salomon war in erster Ehe mit Guida Steinberger verwitwete Schnapper verheiratet; sie starb am 11. November 1889 in Bingen. Dreißig Jahre lang übte Joseph Salomon das Amt des Synagogendieners aus. Er starb am 26. Februar 1910 in Bingen, seine Frau Bertha am 4. Februar 1930.
Karl und Eva Keller hatten zwei Kinder. Sohn Walter kam am 22. September 1921 zur Welt, Tochter Ruth Mirjam am 14. Januar 1924. Beide Kinder wurden in Bingen geboren. Als seine Geschwister gibt Karl Keller 1940 Josef Keller an, der 1938 ausgewandert war, Siegmund Keller in Rheinböllen, Willi Keller in Bacharach und die Schwestern Emma Keller in Bacharach und Rosa Platz in Gladbach bei Neuwied. Emma und Willi Keller und Rosa Platz wurden Opfer des Holocaust.
Vom 27. Dezember 1914 bis zum 20. November 1918 kämpfte Karl Keller im Infanterieregiment 97 in Frankreich und Russland. Bei Vilna wurde er durch einen Gewehrschuss am rechten Oberschenkel und linken Unterschenkel verwundet. Er wurde mit dem Eisernen Kreuz Zweiter Klasse, dem Ehrenkreuz für Frontkämpfer und dem Verwundetenabzeichen in Schwarz ausgezeichnet. Karl Keller gehörte dem Reichsbund Jüdischer Frontsoldaten an und war Mitglied in der Jüdischen Kultusvereinigung Bingen.
Die Familie wohnte in der Rathausstraße 20. Das Haus war schon 1884 im Besitz von Joseph Salomon; nach seinem Tod ging es an seine Witwe Bertha über, von 1921 bis 1937 gehörte es Tochter Eva. Nach dem Verkauf des Hauses zog die Familie in die Gaustraße 14, 1940 wurde sie in das „Judenhaus“ Gaustraße 11 eingewiesen.
Familie Keller hatte mit der Nummer 47398 eine sehr hohe Wartenummer beim amerikanischen Konsulat in Stuttgart. Am 20. März 1942 wurden Karl Keller, seine Frau Eva und Tochter Ruth mit den Nummern 492, 493 und 495 nach Piaski in Polen deportiert. Ihr weiteres Schicksal ist unbekannt.
Die „Liste der aus Hessen im März 1942 abgewanderten Juden“ aus dem Nachlass Oppenheim in Mainz belegt, dass mit der Nummer 494, die eigentlich für Walter Keller vorgesehen war, die Hausangestellte Ruth London aus Mainz deportiert wurde. Im „Gedenkbuch Berlins der jüdischen Opfer des Nationalsozialismus“ ist Walter Keller registriert. Er arbeitete vor seiner Deportation im Forsteinsatzlager in Kersdorf. Am 19. April 1943 wurde er mit dem 37. Transport nach Auschwitz verschleppt und ermordet.
Über eine unvergessliche Erinnerung an Walter Keller hatte Herbert Brück (1923-2011) in einem Brief berichtet; „Ich war unter den paar Leuten, denen Anfang 1939 erlaubt wurde, die ausgebrannte Ruine der Synagoge zu besuchen. Der Eindruck, den ich bis heute nicht vergesse, war der einer Katastrophe, am Boden verkohlte Möbel, die im Wasser schwammen, über uns der freie Himmel, die Mauern angeschwärzt und der Brandgeruch über allem. Plötzlich beugte sich der Sohn des Schuhmachers Keller zu Boden und fand unter dem Unrat eine Jad. Das ist ein Gegenstand von etwa 20 cm aus Silber, an dessen Ende sich eine kleine Hand befindet und mit einem ausgestreckten Zeigefinger, der am Schabbat benützt wird, um dem Text der klein geschriebenen Tora zu folgen. Das war das Letzte, das noch übrig geblieben war.
Das Zeichen war eindeutig. Meinen Eltern gelang es, in letzter Stunde ein Visum für Chile zu bekommen, wo ich seitdem lebe und eine Familie habe. Viele andere, die ich persönlich kannte, haben es nicht geschafft.“
Der Stolperstein für Karl Keller wird finanziert von Tatiana Mouchkina, die im Jahr 2000 aus St. Petersburg nach Bingen kam. An Eva Keller erinnert Viola Bergmann aus Bingen mit ihrem Stein. Mit dem Erlös aus einer Kuchenaktion finanzieren Schülerinnen der Hildegardisschule die Stolpersteine für Ruth und Walter Keller. Damit sind es zwölf Steine, mit denen Schülerinnen dieser Schule an Binger Opfer des Holocaust erinnern.