Bingen - Pos. 6
Stolpersteine für Karl und Agnes Gross geb Neuberger und Bertha Gross in der Gaustraße 11
Text: Beate Goetz
Karl Gross wurde am 6. März 1876 in Bingen als Sohn des Weinhändlers Bernhard Gross und seiner Frau Bertha (geb. Seligmann) geboren. Die wohlhabende Familie firmierte unter dem Namen 'Fa. W. Gross Söhne' in der Gaustraße und blickte 1935 auf ihr 100-jähriges Bestehen zurück. Die Geschwister von Karl Gross waren Mathilde, Anna, Wilhelm, Isidor. Mathilde Mayer-Gross, die mit 68 Jahren nach Amerika auswanderte, hat mit ihren Lebenserinnerungen 'Die Alte und die Neue Welt' ein Dokument jüdischen Lebens im Bingen der 30er Jahre hinterlassen. Das Büchlein 'Die Alte und die Neue Welt' ist nur noch über den Arbeitskreis Jüdisches Bingen zu erhalten.
Ein tragisches Ereignis erschütterte die Familie 1901, als Bernhard und Bertha Gross kurz nach Einzug in ihr renoviertes Haus in der Mainzer Straße 16 an einer Kohlenmonoxidvergiftung starben. Karl Gross war verheiratet mit Agnes, geb. Neuberger. Aus der Ehe gingen zwei Töchter hervor: Bertha erlitt bei ihrer Geburt am 1. Januar 1906 irreparable Hirnschädigungen und lebte im März 1940 in einem Heim in Rhens. Die jüngste Tochter Ilse (* 1921) schickten die Eltern 1935 zur Internationalen Schule nach Genf, in der Hoffnung, dass sie dort die Schulzeit zu Ende bringen könne. 1938 jedoch musste Ilse die Schweiz verlassen, ging nach England. Nachdem sie zeitweise mit anderen europäischen Akademikern auf der Isle of Man interniert war, arbeitete sie nach 1941 in London für die 'Indian Freedom Campaign' und später für die Freudianerin Dr. Kate Friedländer. 1948 heiratete sie den Maler Kit Barker, auch der gemeinsame Sohn Thomas ist Maler.
Ilse Barker war schriftstellerisch tätig, veröffentlichte unter dem Namen Kathrine Talbot Romane, Gedichte, Kurzgeschichten, Monografien, schrieb Essays, machte Übersetzungen. Nach ihrem Tod 2006 widmete ihr der 'Guardian' einen ehrenden Nachruf. Aus ihrem Nachwort, das sie zu Mathilde Mayers Buch schrieb, sprechen Wärme und erstaunliche Ortskenntnis von Bingen, obwohl sie ihre frühere Heimatstadt nur noch einmal kurz besucht hatte; die Weinlage 'Binger Rochuskapelle' kaufte sie bis ins hohe Alter im örtlichen Supermarkt.
Karl Gross war als Leutnant der Landwehr von August 1914 bis Ende des Ersten Weltkriegs ununterbrochen an der Front. Er erhielt das EK II, die Hessische Tapferkeitsmedaille, das Ehrenkreuz für Frontkämpfer. Auch war er Mitglied in der Deutschen Staatspartei.
Ilse Barker charakterisiert die Mutter als starke Persönlichkeit, die sich für Musik, Literatur, Kunstgeschichte interessierte. Den Vater beschreibt sie als freundlichen, geselligen Menschen, der in seiner Arbeit im Weingeschäft aufging. Karl und Agnes Gross, die wegen der behinderten Tochter ihre Auswanderung zögerlich betrieben, wurden am 27. September 1942 nach Theresienstadt deportiert. Agnes kam im Oktober 1944 mit einem Transport nach Auschwitz. Karl Gross starb am 1. Februar 1944 in Theresienstadt, wo er nach Aussage der Tochter als Krankenträger arbeiten musste. Als im Dezember 1940 die Israelitische Heil- und Pflegeanstalt Bendorf-Sayn durch Reichserlass Sammelanstalt für unheilbar kranke Psychiatriepatienten wurde, kam auch Bertha Gross dorthin. Ihr Name steht auf der Deportationsliste der Anstalt vom 30. April 1942, die als Ziel Izbica in Polen hatte.
Sponsoren dieser Stolpersteine sind Elke und Karl Bork und Beate Goetz.